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Johanna Haarer: wie ein NS-Erziehungsbuch bis heute wirkt

Johanna Haarer war Ärztin, Autorin und NS-Propagandistin. Geboren wurde sie am 3. Oktober 1900 in Tetschen-Bodenbach (Böhmen), gestorben ist sie am 30. April 1988 in München.  Sie war Fachärztin für Lungenkrankheiten, nicht für Pädiatrie oder Geburtshilfe. Und doch schrieb sie ab 1933/34 über Säuglingspflege und Erziehung und traf damit einen Nerv: ein Ratgeber, der sich als praktische Hilfe ausgab, dabei aber ein ziemlich geschlossenes Menschenbild transportierte. 

Politisch war das nicht „irgendwie Zeitgeist“. Haarer trat 1937 in die NSDAP ein, schrieb unter anderem im „Völkischen Beobachter“ und übernahm Funktionen im Umfeld der NS-Frauenschaft (unter anderem als „Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen“). 

Der Ratgeber als Ideologie im Kittel

„Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ erschien 1934 und orientierte sich erkennbar an den pädagogischen und frauenpolitischen Positionen des Regimes.  Das Buch propagierte „Abhärtung“ von Beginn an, also nicht erst als spätere Erziehungsfrage, sondern schon im Umgang mit Säuglingen.  Der Text war so aufgebaut, dass er im Alltag funktionierte: Schwangerschaft, Wochenbett, Stillen, Hygiene, Kleidung, Ausstattung. Wer in dieser Phase unsicher war, und wer ist das beim ersten Kind nicht?, bekam kleinteilige Anweisungen und das Gefühl von Kontrolle.

Genau diese Mischung machte den Stoff so langlebig. Neben fraglos sinnvollen Hinweisen (etwa zu Gesundheit und Vorsicht im Alltag) stand ein harter Kern: Distanz als Tugend, Zuwendung als Risiko, Disziplin als Charakterbildung. Der berüchtigte Imperativ, den viele bis heute als Chiffre erinnern, lautete: „Dann, liebe Mutter, werde hart.“ Er steht nicht für einen Ausrutscher, sondern für den Programmton: Das Kind erschien nicht als Beziehungspartner, sondern als Objekt, das man früh „formt“, bevor es Ansprüche anmeldet.

Haarers Rolle als Autorität war Teil der Konstruktion. Sie schrieb nicht als Wissenschaftlerin, die etwas begründete und belegt, sondern als Ärztin, die der Leserin Ansagen machte. Die Herkunft der Ansagen blieb im Text oft im Dunkeln; entscheidend war, dass eine „Frau Dr.“ sprach. Inhaltlich passte das in eine Ideologie, die das Individuum dem Kollektiv unterordnete: Die Mutter war nicht einfach Mutter, sondern Funktion. Das Kind war nicht einfach Kind, sondern Material für „Volksgemeinschaft“.

Das Buch gehörte bald zur Grundlage der „Reichsmütterschulung“ der NS-Frauenschaft. Es wurde in vielen Neuauflagen verbreitet und erreichte bis 1972 eine Gesamtzahl von rund 1,2 Millionen Exemplaren. Wer in solchen Größenordnungen in Ausbildungskontexte eingespeist wird, prägt nicht nur Leser, sondern Milieus: Begriffe, Reflexe, Normalitäten.

Nach 1945: entnazifiziert, weiterverlegt

Nach 1945 setzte eine Erzählung ein, die man oft in Varianten kennt: Nazis habe es „woanders“ gegeben, im Zweifel im Nachbardorf. Parallel dazu lief Entnazifizierung zwar an, verlor aber überall in Deutschland rasch an Konsequenz und politischem Interesse; in der Regel wurde sie im Westen 1949/1950 eingestellt.  Es gab Verfahren, es gab moralische Selbstentlastung, es gab viel Gejammer über Zumutungen – und zugleich wurden Strukturen, Karrieren und Denkstile erstaunlich oft fortgesetzt, nur teils mit anderem Vokabular.

Haarer war dafür ein gutes Beispiel. Sie wurde nach Kriegsende verhaftet und war etwa ein Jahr in US-Internierungslagern.  Nach der Entlassung erhielt sie keine Erlaubnis, wieder eine eigene Praxis zu eröffnen, arbeitete aber als Lungenfachärztin im öffentlichen Dienst weiter und schrieb erneut Ratgeber. Und vor allem: Ihr zentrales Buch verschwand nicht.

„Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ wurde nach 1945 überarbeitet und erschien unter dem neutralisierten Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ erneut.  Der grobe NS-Jargon ließ sich relativ leicht ausdünnen: Überschriften wurden entschärft, nationale Markierungen gestrichen, einzelne Passagen umformuliert. Aber die zentrale Pädagogik blieb als Haltung erkennbar, weil sie weniger an Parteivokabeln hing als an einem Grundton: Kontrolle statt Beziehung, Formung statt Resonanz.

Dass der Markt diese Weiterverwertung hergab, ist Teil der Pointe. Ein Bestseller blieb ein Bestseller. Und weil der Text zugleich Alltagswissen bot, konnte er in Wohnzimmern liegen, ohne dass sich jemand als Ideologieträger verstand. Genau so verlängerten sich Ideologien nach 1945: nicht zwingend als Bekenntnis, sondern als Handlungsroutine. Wer nachts übermüdet ist, greift eher nach klaren Anweisungen als nach Ambivalenz. Wer einen Ratgeber als „praktisch“ erlebt, übernimmt neben Wickeltipps oft auch den Tonfall: das „Du musst“, das „stell dich nicht so an“, das „das Kind darf nicht bestimmen“. Das ist keine Eins-zu-eins-Kausalität, aber es ist ein plausibler Übertragungsweg.

Ein nüchterner Marker dafür war die Editionsgeschichte selbst. Laut biografischer Dokumentation erschien eine „völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage“ noch 1987. 

So wurde Haarer weniger zum Relikt als zu einem Testfall: Wie viel Kontinuität passt in eine Gesellschaft, die sich selbst gern als „Stunde Null“ erzählt? Die Antwort war unerquicklich, aber konsistent: In vielen Bereichen gab es keine klare Zäsur, sondern Übergänge, Umbenennungen, Nachkriegs-Konjunkturen. Und mitten darin lag ein Ratgeber, der sich als Hilfe verkaufte und als Weltbild wirkte – lange, nachdem das Regime verschwunden war.

Grundlage dieses Textes sind zwei Gespräche (Haarer bis 1945, und danach), die im Dezember 2025 auf YouTube (und parallel im Bartocast) mit der Journalistin Christiane Jochum erschienen. Jochum brachte dabei die seltene Kombination aus Archivarbeit, Blick für Begriffe und Detailwissen zu Auflagen, Verlagen und Nachkriegskonjunkturen mit.

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