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Frauen in der Medizin? Schwierig.

Sarah Hiltner ist Soziologin und Physiotherapeutin. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit geschlechtersensibler Medizin – einem Forschungs- und Praxisfeld, das sich mit den biologischen, hormonellen und gesellschaftlichen Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Körpern auseinandersetzt. Was dabei auffällt: Die Medizin behandelt den männlichen Körper bis heute als Standard. Frauenkörper gelten meist als Abweichung – mit oft gravierenden Folgen.

Im Gespräch wird deutlich: Es geht nicht um Ideologie, sondern um konkrete Unterschiede, etwa bei der Wirkung von Medikamenten. Acetylsalicylsäure – bekannt als ASS oder Aspirin – senkt bei Männern das Risiko für Herzinfarkte. Bei Frauen hingegen wirkt es vor allem gegen Schlaganfälle. Das Problem: lange Zeit wurde das Medikament nur an Männern erforscht. Und das ist kein Einzelfall.

Hiltner berichtet, dass Frauen in medizinischen Studien jahrzehntelang ausgeschlossen wurden. Einer der Gründe: die Sorge, ein Wirkstoff könnte die Fruchtbarkeit beeinträchtigen oder – wie im Fall von Contergan – Schäden bei Ungeborenen verursachen. Die Folge: Medikamente, die nicht am weiblichen Körper getestet wurden, wirken oft schlechter oder verursachen unerwartete Nebenwirkungen. Das betrifft auch Regelschmerzen – ausgerechnet dort, wo Frauen die Zielgruppe sind.

Hinzu kommt: Die medizinische Sprache selbst spiegelt diesen Bias wider. In Notfall-Lehrbüchern ist beim Herzinfarkt vom Entfernen von Hemdkragen und Krawatten die Rede – nicht aber von BHs oder Ketten. Solche Details mögen trivial erscheinen, verdeutlichen aber, wie wenig der weibliche Körper mitgedacht wird. Das wird vor allem dann zum Problem, wenn Behandlungsentscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen – etwa bei einem Herzinfarkt, der bei Frauen oft anders verläuft als bei Männern.

Hiltner betont: Es geht nicht um Schuldzuweisungen. Die strukturelle Bevorzugung des männlichen Körpers in Forschung und Lehre ist historisch gewachsen. Aber sie ist veränderbar – wenn man bereit ist, Lehrbücher neu zu schreiben, Forschung breiter aufzustellen und sich dem Gedanken zu öffnen, dass „anders“ nicht gleich „abweichend“ bedeutet.

Auch kulturelle Zuschreibungen spielen eine Rolle. Der sogenannte „Morbus Mediterraneus“ etwa – ein informeller Begriff für angeblich übertriebene Schmerzäußerungen bei Frauen mit Migrationshintergrund – zeigt, wie schnell Empathielücken zu Fehldiagnosen werden. Hiltner weist darauf hin, dass solche Stereotype nicht nur rassistisch, sondern auch gefährlich sind: Wer Schmerzen nicht ernst nimmt, übersieht möglicherweise reale, behandlungsbedürftige Erkrankungen.

Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wer über geschlechtersensible Medizin spricht, spricht nicht nur über Gerechtigkeit – sondern über Qualität. Medizin, die alle Körper mitdenkt, ist nicht komplizierter. Nur ehrlicher.

Hier ist das Gespräch mit Video, und hier findet ihr es als Podcast.

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