
Nicole Jäger: Dicksein ist sichtbar und wird oft als Einziges gesehen
Nicole Jäger ist Autorin. Hat ein neues Buch heraus gebracht, und mit Wahnsinnwissen über das Dicksein und das Gesundheitssystem gesprochen. Sie spricht über strukturelle Herausforderungen im Umgang mit Übergewicht und schildert, wie ärztliche Gespräche häufig verlaufen. Ihr Anliegen: verständlich machen, wieso viele übergewichtige Menschen ärztliche Hilfe meiden – und welche Folgen das haben kann.
Gewicht als medizinische Brille
Laut Jäger wird bei Arztbesuchen das Gewicht oft zur alles erklärenden Größe – noch bevor Symptome im Einzelnen untersucht wurden. In ihrem Fall habe es Jahre gedauert, bis chronische Schmerzen ernst genommen wurden. Immer wieder sei das Körpergewicht als ausreichende Erklärung genannt worden. Erst nachdem sie deutlich abgenommen hatte, wurde nach anderen Ursachen gesucht. Dass Übergewicht ein Gesundheitsrisiko darstellen kann, stellt Jäger dabei nicht infrage. Problematisch werde es aber, wenn dies zur einzigen Perspektive werde.
Übergewicht und Adipositas
Adipositas gilt inzwischen als chronische Erkrankung. Nicole Jäger beschreibt ihre eigene Geschichte: Sie lebt mit einer Essstörung und hat mehr als 170 Kilogramm abgenommen. Diese Veränderung ist für Außenstehende nicht sichtbar, Jäger ist immer noch dick. Viele sehen nur das und gehen davon aus, dass keine Veränderung stattgefunden habe. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung werde Übergewicht oft als selbstverschuldet angesehen – diese Zuschreibung erschwere sachliche Gespräche. Jäger betont, dass Risiken wie Herz-Kreislauf-Probleme oder Gelenkerkrankungen real seien. Gleichzeitig sei es notwendig, weitere Ursachen von Beschwerden ernst zu nehmen – und nicht alles dem Gewicht zuzuschreiben.
Vertrauen im Arztgespräch
Viele übergewichtige Menschen berichten von schwierigen Erfahrungen in der ärztlichen Kommunikation. Aussagen würden schnell mit Scham belegt, Hinweise kämen pauschal oder wertend. Das führe bei vielen Betroffenen dazu, Arztbesuche hinauszuzögern oder ganz zu vermeiden. Nicole Jäger beschreibt, dass sie Gespräche inzwischen selbst einleitet, um Missverständnissen vorzubeugen. Vertrauen müsse bewusst hergestellt werden – gerade, wenn Patientinnen und Patienten mit einer langen Geschichte negativer Erfahrungen kämen.
Ernährung, Bildung und soziale Lage
Ernährung ist für Nicole Jäger ein lebenspraktisches Thema, und zwar ein wichtiges. Sie plädiert dafür, Ernährung stärker in die schulische Bildung einzubinden – als Wissen über Lebensmittel, Zubereitung, Körperfunktionen und Alltagstauglichkeit. In vielen Fällen sei das Thema mit Schuld und Kontrolle aufgeladen. Besonders Kinder seien abhängig von den Rahmenbedingungen, die ihnen geboten würden. Elternhaus, Schule, soziale Herkunft und finanzielle Möglichkeiten bestimmten mit, wie sich das Verhältnis zu Nahrung entwickelt. Ernährung sei oft auch eine Frage des Zugangs – nicht nur zu Wissen.
Sichtbarkeit und Rückschritt
Lange sei das Thema Körpervielfalt sichtbarer geworden, etwa durch Werbung, Medien und Mode. Nicole Jäger beobachtet hier aktuell eine Gegenbewegung. Plus-Size-Modelle würden wieder aus Kampagnen verschwinden, in sozialen Medien nähmen abwertende Kommentare wieder zu. Sichtbarkeit werde häufig als Trend behandelt – nicht als Teil gesellschaftlicher Normalität. Dabei sei es entscheidend, dass Menschen mit unterschiedlichen Körperformen in öffentlichen Räumen vorkämen – ohne dass ihre Erscheinung allein zum Thema gemacht werde.
Hinweise
Das vollständige Gespräch mit Nicole Jäger ist im Podcast „Bartocast“ erschienen. Außerdem ist das Interview mit ihr in der Jungle World veröffentlicht worden. Ihr aktuelles Buch „Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein“ ist im Rowohlt Verlag erschienen.

