
Demenz: Was sie mit uns macht – und was wir über sie wissen sollten
In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. Die meisten von ihnen werden zu Hause betreut – oft durch ihre Angehörigen. Viele gehen diesen Weg, ohne vorbereitet zu sein. Autor André Kundernatsch war vier Wochen lang in dieser Situation. Sein Bericht, verbunden mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, zeigt, was Demenz für alle Beteiligten bedeutet.
Der Alltag wird neu verhandelt
André Kudernatsch pflegte im Januar 2025 seinen an Demenz erkrankten Vater. Nur für vier Wochen – aber diese Wochen reichten, um vieles zu verändern. Kleinigkeiten wurden zu Konflikten. Diskussionen über Kleidung oder Heizungsregler mündeten in stundenlange Endlosschleifen. Die Rollen kehrten sich um: Der Vater war nicht mehr der, der bestimmte. Er wurde versorgt.
Erlebnisse wie diese sind typisch. Forscher sprechen hier von der „funktionalen Desorientierung“: Demenzkranke können Alltagsroutinen oft noch ausführen, verstehen ihre Bedeutung aber nicht mehr vollständig. Die Folge sind Missverständnisse, Unsicherheit – und bei beiden Seiten Frust.
Was im Gehirn passiert
Wissenschaftlich ist man große Schritte in der Erklärung weiter gekommen: Am Beginn der Erkrankung steht die sogenannte Amyloid-Kaskade: Das Eiweiß Amyloid-beta lagert sich im Gehirn ab, es folgen Entzündungen und schließlich Veränderungen an einem zweiten Protein – dem Tau-Protein. Die Folgen: Nervenzellen sterben, vor allem in den Hirnregionen, die für Gedächtnis und Orientierung zuständig sind.
Diese Prozesse beginnen lange, bevor Symptome auftreten. Das macht es so schwer, den „richtigen Zeitpunkt“ für Unterstützungsangebote oder einen Heimeinzug zu erkennen – eine Erfahrung, die auch Kudernatsch gemacht hat. Die Krankheit war lange bekannt, aber das Ausmaß wurde in der Familie verdrängt.
Was die Forschung sagt
Schlafmangel, Stress, Depressionen – all das steht in Zusammenhang mit kognitivem Abbau. Eine Meta-Analyse aus Jülich und Düsseldorf zeigt: Chronische Schlafstörungen hinterlassen Spuren im Gehirn – unter anderem im Hippocampus und der Amygdala, also genau dort, wo auch die Demenz ihre Wirkung entfaltet.
Einzelne Medikamente wie Lecanemab könnten künftig den Verlauf der Alzheimer-Krankheit verlangsamen, sind aber bislang nur in bestimmten Fällen zugelassen. Nichtmedikamentöse Maßnahmen – etwa strukturierter Alltag, Gedächtnistraining, Bewegung – sind wichtig, aber keine Heilung.
Überforderung ist systemisch
Pflegende Angehörige leisten enorm viel. Doch Unterstützung ist rar. Ein Pflegeheimplatz kostet häufig mehr als 2.800 Euro monatlich, die Zuzahlung ist für viele nicht zu stemmen, so Kudernatsch. Seine Mutter war als Hauptpflegende zunehmend erschöpft – körperlich und emotional.
Sicherlich kein Einzelfall. Gesellschaftlich fehlt es oft an Anerkennung, finanzieller Hilfe und niedrigschwelliger Beratung. Und an Enttabuisierung: Noch immer wird versucht, die Diagnose zu verschweigen oder kleinzureden – aus Scham oder einem Wunsch nach „heiler Familie“.
Zwischen Kontrolle und Ohnmacht
Für Kudernatsch war das Schreiben über die Pflegezeit ein Mittel, das Erlebte zu verarbeiten. Andere nutzen Tagespflegeangebote, Beratung, Selbsthilfegruppen. Doch viele haben nichts – außer dem Alltag.
Der Verlauf einer Demenz ist nicht linear. Es gibt gute Tage, es gibt Phasen der Klarheit. Und es gibt Momente, in denen das Kind für den Kranke fremd wirkt, bzw. es ist. Für Angehörige bedeutet das: Abschied auf Raten, Verantwortung ohne Vorbereitung – und das dauerhafte Gefühl, etwas falsch zu machen.
Das Gespräch mit Andre Kudernatsch ist hier in Bild und Ton zu finden.
